Puff

Orte beschreiben und/oder erschaffen?

In Paula Grimms Blog bin ich auf folgende Fragestellung für eine Blogparade gestoßen:

Darf man Orte, die real existieren in seiner Beschreibung verändern und wenn ja, was muss man dabei beachten? Ich bin gespannt auf Artikel, in denen Ihr Eure Erfahrungen mit der Erfindung neuer Orte, den Recherchen über bestehende Plätze, Veränderungen von Orten berichtet. Was ist der schönste Ort, den Ihr je erfunden habt? Was ist Eure schönste Beschreibung von Orten, über die Ihr etwas geschrieben habt? Erwähnt Ihr es, wenn Ihr einen Ort „naturgetreu“ oder verändert beschreibt und wenn ja, an welcher Stelle Eurer Texte und wie? In welchen Genres erfindet oder verändert Ihr Orte besonders gern? Wann muss es ein realer Ort sein?

Die Fragestellung finde ich schon deshalb interessant, weil die Frage bei den Diskussionen, die ich früher geführt habe, immer andersrum gestellt wurde: „Darf man reale Orte verwenden oder muss man sie so weit verändern, dass sicher gestellt ist, dass man niemandem auf die Füße tritt?“ Auf der gleichen Linie liegt eine Reaktion meines Mannes auf folgende Textstelle aus dem Entwurf meines ersten Krimis. Dort heißt es:

„Aber wir wollten wirklich nur mit dem Hund …“, sagte der Mann kleinlaut. „Bitte, das können Sie auch nachprüfen. Alle unsere Nachbarn wissen, dass wir immer um diese Zeit unsere Runde machen.“
„Genau“, warf seine Frau ein. „Fragen Sie sie nur. Kindermann, Ernst und Luise Kindermann. Am Pfarrhof 12. Sie können wirklich jeden fragen.“

Mein Mann fragte sofort: „Die Adresse gibt es aber nicht, oder? Nicht, dass jemand denkt, derjenige haben wirklich …“
Bei der Frage ist mir, glaube ich, der Unterkiefer runtergeklappt. Natürlich hatte ich eine real existierende Straße genommen. Ich schreibe Krimis, die in Frankfurt und Umgebung spielen und wenn ich einen Orts- oder Straßennamen nenne, sollte man die auch finden und wiedererkennen können. Aber es ist doch wohl klar, dass der Rest Fiktion ist, oder?

Damit ist ein Teil der Frage schon beantwortet: Ja, ich verwende real existierende Orte und ich bemühe mich sogar, sie so realistisch, wie möglich zu beschreiben. Dazu recherchiere ich, zuerst auf Google, dann auch vor Ort. Google ist nämlich alles andere, als zuverlässig. Die Bilder sind oft veraltet und daher sehen Häuser auf Google Streetview oft ganz anders aus, als in der Realität. Oder sind inzwischen abgerissen. Und von Äckern, Wäldern und Parks gibt es sowieso kein Streetview.
Aber was heißt realistisch und was ist möglich?

Autoren erfinden oder verändern Orte

In der Physik gibt es den Satz, dass man nichts beobachten kann, ohne das beobachtete Objekt zu verändern. In gewisser Weise gilt das auch für Autoren. Selbst, wenn wir realistisch erzählen, raffen wir Zeit und Raum, wenn es für die Geschichte notwendig ist. Wenn wir es nicht täten, läse sich eine Fahrt durch eine beliebige Stadt etwa so spannend, wie ein Stadtplan. Den Leser interessiert aber nicht, an welchen Straßen man vorbei gefahren ist, sondern nur das Ziel und mögliche Hindernisse. Selbst Sehenswürdigkeiten oder besondere Landmarken können oft getrost ausgeblendet werden, wenn sie keine Bedeutung für die Handlung haben.
Ich sage bewusst „oft“, weil es natürlich auch Ausnahmen gibt. Jemand, der einen Ort das erste Mal besucht, wird Landmarken viel bewusster wahrnehmen, als ein Einheimischer. Und ein Tourist wird ganz bewusst nach Sehenswürdigkeiten Ausschau halten.

Damit sind wir beim nächsten Punkt: Nicht nur die Handlung hat Einfluss auf die Beschreibung eines Orts, sondern auch die Wahrnehmung durch Protagonisten bzw. Erzähler. Hypothermie hat dazu schon gebloggt. Er bezieht sich dabei vor allem auf das (Hintergrund-)Wissen der Erzähler/Protagonisten. In soweit gebe ich ihm vollkommen recht. Ein Biologe nimmt ein Stück Landschaft anders wahr, als ein Bauer oder ein Städter. Der Biologe registriert das Vorhandensein oder die Abwesenheit verschiedener Pflanzen und Tiere und schließt auf die Intaktheit des Ökosystems. Der Bauer sieht die Qualität des Bodens, für welche Art der Bewirtschaftung er geeignet ist und ob die Apfelbäume einen Kurschnitt brauchen. Der Städter sieht Felder, Wiesen und ein paar Bäume.
Aber neben dem Wissen bestimmt auch die Haltung des Betrachters die Wahrnehmung. Sie entscheidet z. B. ob der Städter in den Feldern, Wiesen und Bäumen, die er sieht, ein ländliches Idyll erkennt (was zu einer entsprechend lyrischen Beschreibung führen würde) oder ob er sie als langweilig abtut. Der Bauer ärgert sich, vielleicht, dass er Rüben gesäht hat und keinen Weizen, weil das Wetter viel besser für Weizen gewesen wäre und der Biologe stellt erfreut fest, dass das neu entwickelte Unkrautvernichtungsmittel hervorragend wirkt, auch wenn es in diesem Jahr bedauernswert wenige Bienen gibt. Und Städter, wie Biologe ärgern sich, wenn sie in einen Kuhfladen treten, während der Bauer den gar nicht wahr nimmt, weil er klischeegemäß Gummistiefel trägt, die er vor der Haustür ausziehen wird.

Was ist realistisch?

Um auf die Frage von oben zurück zu kommen: Realismus heißt für mich nicht, einen Ort so objektiv wie möglich darzustellen, sondern ihn so abzubilden, wie er in der aktuellen Wahrnehmung des Protagonisten erscheint, aus dessen Perspektive ich gerade erzähle. (Uff, was für ein Satz!)

Und bei allem Realismus und aller Recherche erfinde ich auch einiges.
Ein Grund kann sein, dass die Geschichte an Orten spielt, die mir nur schwer zugänglich sind und es für die Geschichte nicht darauf ankommt, ob dieser Ort in der Realität auch wirklich so aussieht, wie beschrieben. Ein Beispiel dafür sind Treppenhäuser und Privatwohnungen. In meinem aktuellen Roman gibt es z. B. eine Szene, in der die Ermittler das Treppenhaus einer Firma betreten, die im Hinterhof eines Gewerbegebiets liegt. Das Gewerbegebiet gibt es. Den Hinterhof auch. Er ist verwinkelt und ein bisschen spooky, was auch an den schäbigen Gebäuden drum herum liegt. Das Treppenhaus dagegen besteht aus glänzendem schwarzem Granit und blitzweißen Wänden. Vermutlich existiert es nur in meiner Vorstellung, aber indem ich es beschreibe, will ich einen Eindruck von der Firma vermitteln, die dort ihren Sitz hat (und die natürlich genauso fiktiv ist, wie das Treppenhaus).
Ein anderer Grund ist, dass es gute Gründe haben kann, bestimmte Ereignisse nicht an realen Orten stattfinden zu lassen. Wenn ich z. B. über mordende Krankenschwestern und ärztlichen Abrechnungsbetrug schreiben würde (was ich, jedenfalls für den Moment, nicht vorhabe), würde ich es mir dreimal überlegen, das in einem bestehenden Institut der Uniklinik Frankfurt stattfinden zu lassen. Das Gleiche gilt, wenn ich meine Kommissare essen gehen ließe, um einem gebackene Schabe auf Toast zu servieren. Auch andere, potentiell geschäftsschädigende Ereignisse, die im schlimmsten Fall eine Verleumdungsklage nach sich ziehen könnten, verlagere ich an fiktive Orte.
Und wenn ich in einer Straße unbedingt ein Eiscafe brauche, es dort aber nur fünf Bäckereien, eine Zoohandlung, eine Metzgerei und ein Nagelstudio gibt, erfinde ich sogar das Eiscafe. Geschäfte wechseln. Ob in der Straße nun ein Eiscafé mehr oder eine Bäckerei weniger ist, ändert ihren Charakter nicht grundlegend. Etwas anderes wäre es, das Eiscafé mitten im Wohngebiet anzusiedeln. Oder in dem beschriebenen netten Einkaufssträßchen einen Puff zu eröffenen – es sei denn, der Puff ist neu und provoziert den Ärger der Ansässigen. DAS wäre schon wieder realistisch.