In meinem letzten Beitrag habe ich mich darüber ausgelassen, warum die Realität nur schlecht als Vorlage für einen Krimi taugt. Heute soll es dafür ein bisschen darum gehen, wo man mit ihr doch etwas anfangen kann.
Ausgangspunkt ist eine Diskussion über Zivilcourage. Ein Matthias Czarnetzki anderer Autor hatte im Netz gefragt, warum man wegschaut, wenn man doch auch hinsehen kann. Mit einer der Antworten setzt er sich in einem weiteren Blogbeitrag auseinander. Diesen Beitrag habe ich kommentiert, aber darum soll es hier nicht gehen, sondern um die Beurteilung des Wahrheitsgehalts von Aussagen.
Das Spiel mit der Wahrheit
Zugegeben, das klingt ein bisschen trocken, ist aber nicht nur für Polizisten, Juristen und Psychologen wichtig, sondern auch für Autoren. Man kann damit spielen und dadurch seinen Roman interessanter gestalten.
Nicht nur Krimi-Autoren haben es mit unzuverlässigen Zeugen zu tun. Auch in anderen Genres lügen die Protagonisten und Nebencharaktere oft, dass sich die Balken biegen. Nur, wie stellt man das als Autor dar, ohne den Leser gleich mit der Nase darauf zu stoßen? Tatsächlich helfen hier genau die gleichen Kriterien, die auch Polizisten, Richter und Staatsanwälte zur Beurteilung von Zeugenaussagen heranziehen.
Dabei betrachtet man inzwischen weniger die Glaubwürdigkeit des Zeugen, also dessen Leumund und Persönlichkeit, sondern vor allem die Glaubhaftigkeit des Gesagten. Für dessen Beurteilung werden die sogenannten Realitätsskriterien gegen mögliche Lügensignale abgewogen.
Realitätskriterien
- konkrete, anschauliche Schilderung
- Detailreichtum und Zugeben von Erinnerungslücken
- Schilderung abgebrochener Handlungsketten und von Unverstandenem
- Selbstkorrekturen und -belastungen, auch das Zugeben von eigenen Fehlern oder sozial unerwünschtem Verhalten
- Originalität (d. h. typischer Sprachstil, keine Klischees, keine Stereotype), insbesondere: Wiedergabe eigenen Erlebens (Gefühle, Sorgen, Ängste)
- innere Stimmigkeit (logische Konsistenz, keine Verstöße gegen Naturgesetze oder typische Verfahrensabläufe)
- sachverhaltstypische Details
- Konstanz der Aussage (wenn mehrfach gefragt oder die Schilderung gegenüber anderen wiederholt wird)
Lügensignale
Wer bewusst etwas unwahres erzählt, muss auf sein vorhandenes Wissen zurückgreifen. Lügensignale sind daher:
- Kargheit, Abstraktheit und Detailarmut
- Glatte Darstellung (ohne Komplikationen)
- Verlegenheit und Zurückhaltung der Aussagen und in der Körpersprache
- Schwankungen im Sprachniveau (Pauschalierungen, Allgemeinausdrücke, freud’sche Versprecher)
- Unterwürfigkeit oder besondere Aggressivität (Vorwegverteidigungs- und Entrüstungssymptom)
- Übertreibung der Bestimmtheit der Aussage (Belastungseifer)
Die Ungewissheit macht es spannend
Nun ist nicht jeder Zeuge ein hervorragender Beobachter oder großartiger Erzähler und die einzelnen Kriterien sagen für sich genommen noch wenig aus. Daher kann man als Autor damit spielen und selbst banalen Situationen Spannung abgewinnen, wie das folgende Beispiel zeigt:
Frau Meyer, die an seniler Bettflucht leidet, will morgens um 7.00 mit ihrem Yorkshire Fipsi Gassi gehen. Als sie gerade die Hand nach dem Griff der Haustür ausstreckt, wird diese von außen aufgestoßen und ihr Nachbar, Herr Müller steht vor ihr.
„Hach, Herr Müller!“, ruft sie. „Sie auch schon wach! Was machen Sie denn so früh schon draußen?“
„Nachtschicht“, gibt er zurück. „Stellen Sie sich vor, andere Leute müssen arbeiten!“
Er stapft an ihr vorbei, die Treppe hoch und schlägt die Tür hinter sich zu.
„Was für ein grober Klotz“, sagt sie zu Fipsi, als beide schon auf der Straße sind. „Und hat es nicht geheißen, er studiert? Ich bin mir sicher, Frau Schulze hat sowas erwähnt. Chemie oder so.“
Hat Herr Müller gelogen? Wir wissen es nicht, aber es deutet einiges darauf hin. Nicht nur, dass seine Aussage im Widerspruch zum Treppenhaustratsch steht. Seine Reaktion weist auch darauf hin, dass man ihn bei irgendetwas ertappt hat. Warum sonst sollte er auf eine einfache Frage derart grob und unhöflich reagieren?
Auf der anderen Seite kann es durchaus sein, dass er die Wahrheit sagt, aber nicht über den Job reden will, weil der ihm peinlich ist (Klomann in einem Fetischclub z. B.). Oder er ist so aggressiv, weil er neugierige alte Weiber auf den Tod nicht ausstehen kann. Vielleicht ist er auch einfach müde und hat ihre Begrüßung als Angriff missverstanden.
Wir wissen es nicht. Aber genau das macht das Ganze für den Leser spannend.